In unserer Reihe „DiverCity“ beleuchten wir die unterschiedlichen Facetten von Diversität in der Arbeitswelt und zeigen auf, wie Vielfalt zum Erfolgsfaktor für Unternehmen werden kann. In dieser Ausgabe haben wir mit Unternehmensberaterin Türkân Deniz-Roggenbuck über Intersektionalität, die Messbarkeit des Zugehörigkeitsgefühls und dem Konzept von Diversity Management gesprochen.
Es werden antisexistische Manifeste veröffentlicht, virtuelle Regenbogenflaggen geschwenkt oder Aktions-Wochen veranstaltet: Spätestens seit der Black Lives Matter-Bewegung – und aller spätestens seit der Fußball-Europameisterschaft 2021 – bekennen sich immer mehr Unternehmen öffentlich zu Diversität und Inklusion. Doch handelt sich dabei um Handlungsmaximen mit allen Konsequenzen der strukturellen Veränderung oder doch nur um aufmerksamkeitsstarke Lippenbekenntnisse?
Türkân Deniz-Roggenbuck, Journalistin, Diversity-Trainerin und Sozialmanagerin, verweist zumindest auf die Mehrdimensionalität des Themas, das weit über eine Quote oder einen Social-Media-Post hinausgeht. Warum das Modell der Intersektionalität und Transkulturalität für Arbeitgeber ein entscheidender Erfolgsfaktor sein kann und wie Diversity Management bereits in der Führungsebene beginnt, hat uns die in Braunschweig lebende Frankfurterin im Interview verraten.
Im öffentlichen Diskurs wird beim Thema Diversity der Fokus schnell auf Gender gelegt. Der intersektionale Aspekt wird dabei häufig außen vorgelassen. Kann man Diversität überhaupt ohne Intersektionalität denken?
Das Augenmerk wird ja nicht nur auf Gender geworfen, sondern es legt sich oft auch die Klammer um eine weitere Diversity-Kerndimension: ethnische Herkunft und Nationalität. Dieses Phänomen wiederholt sich oft und gerne in unterschiedlichen Branchen und Disziplinen. Wichtig ist hierbei jedoch zu sehen, dass dies nicht in bewusster Absicht geschieht, sondern unterbewusst, unserer Natur entsprechend, ausformuliert wird. Diese Reduktion von Komplexität des Umfelds navigiert uns und nimmt Anpassung bzw. Abgleichungen an die eigene Lebenswirklichkeit vor. Passt es, kenne ich das? Eine natürlich-neuronale Selektion also, ein Filter. Dies ist auch eng verwoben mit Paul Watzlawicks Theorie um den „Radikalen Konstruktivismus“: Wir stellen im Diskurs der Diversität, die (zur Norm konstruierten) Wirklichkeiten infrage und schaffen so eine Basis dafür, die unberücksichtigten Möglichkeiten mitzudenken. Um zu verstehen, dass die wirkliche Welt, die Realität unseres Lebens über die Veränderung von Sichtweisen und Perspektiven verändert wird. Diese „neuen“ Sichtweisen und Perspektiven werden durch subjektive Wahrnehmung, durch Denken und Fühlen, soziales Kommunizieren, Verhalten und Handeln geschaffen. Wenn wir dann also dieses Bewusstsein verinnerlicht haben, folgt der nächste Schritt, Intersektionalität zu erkennen und verstehen, das dem Diversity-Mindset inhärent ist.
Intersektionalität, 1989 von Kimberlé Cranshaw erstmalig nachhaltend in den USA geprägt, richtet den Blick nicht auf die Mehrfachdiskriminierung als Phänomen der Überlagerung, sondern die Verschränkung und das Zusammenwirken unterschiedlicher Differenzierungsdimensionen. Intersektionalität fokussiert also die Interferenz prekarisierter Zuschreibungen als nicht rechtlich geschützte Dimensionen. Es orientiert sich nicht an einfachen Identitätslogiken. Vor allem in Rassismus, sozialer Herkunft und Geschlecht konstruiert sich eine besondere und schwere Form von Diskriminierung. Und umso dringlicher ist es auch, die rechtlichen Rahmensetzungen zu nivellieren und die vom Bundestag im April dieses Jahres aufgenommene Debatte zur Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes als wichtigen Schritt zu sehen.
Die US-Initiative „Equal Pay Day Campaign“ hat in einer Studie herausgefunden, dass der Gender-Pay-Gap bei schwarzen Frauen und Women of Color erheblich größer ausfällt. In Deutschland gibt es hierzu kaum Daten.
Ja, das stimmt. Vielmehr finden sich hier und dort Zahlen, die subsumiert sicherlich ein ähnliches Ergebnis liefern würden wie bei der genannten US-Initiative. Dennoch ist auch dies im Bezugssystem zu sehen und deuten. Dass sich der anglo- und US-amerikanische Raum mit Diversität und den tieferliegenden Facetten in dieser Weise annimmt und verfolgt, hat natürlich eine historische Bewandtnis und ist das Ergebnis der organischen Fortführung in diesem Kontext. Diese Staaten haben ein klares Selbstbild von sich als Einwanderungsländer und der langen Tradition des „grass-root movement“ in und hinter sich. Während im deutschsprachigen Raum diese Erkenntnis in dem fast „mainstreamartigen peak“ gefühlt und deutlich sichtbar erst mit dem Black-Lives-Matter-Sommer 2019 wuchs.
In Deutschland hingegen ergibt sich ebenfalls aus der politisch-historischen Konnotation, die Agendasetzung über die Themenbereiche Globalisierung, Internationalisierung und dem vorangeschlossen feministische Perspektiven zur Gleichstellung im Berufsleben. Und aus dieser Kausalität heraus werden alle vier Jahre Daten zum Gender-Pay-Gap erhoben. Jetzt, da sich die Arbeitswelt diverser formiert, wird es nicht mehr allzu lange dauern, dass auch explizit Daten zu Women of Color gefordert werden. Über diese Indikatoren als „Hard facts“ können wir gut in die Forderung von Quoten kommen. Vor allem, wenn wir damit argumentieren können, dass eine erhöhte Profitsteigerung von 43 Prozent bei Organisationen und Unternehmen mit kulturell und ethnisch diversem Vorstand prognostiziert werden kann. Das sind neue Märkte, neue Talente, neue Regionen. Dennoch ist der Kern der Frage, weshalb es diese Daten nicht gibt, gleichzeitig die Antwort: seit wann und in welchen relevanten, entscheidungsmächtigen Positionen waren bislang ein Großteil der Women of Color beschäftigt? Daher werden vorrangig Schritte zur Verbesserung der Arbeitsmarkt- und Lebenssituation der normierten Norm unternommen.
Viele Unternehmen setzen bei ihren Diversity-Aktivitäten das Ziel einer Quote vor. Reicht das, um struktureller Mehrfachdiskriminierung zu entgegnen?
Bei einigen der DAX 30 sind die Diversity-Verkündungen nur Imagepolitur. Der Frauenanteil im Vorstand liegt laut einer Studie der Allbright-Stiftung bei 14,7 Prozent. Noch schlimmer: Viele MDax- und SDax-Firmen haben sich sogar ein Ziel von null Prozent Frauen im Vorstand gesetzt. Ganz zu schweigen von Plänen, etwa Menschen mit Behinderung zu (be)fördern. Es geht dabei aber nicht um das Add-on, sondern um Änderungen der Strukturen.
Im englischsprachigen Raum wird der Begriff „Emotional Tax“ verwendet, der den „emotionalen Preis“ beschreibt, den manche Menschen im Unternehmen zahlen müssen, weil sie Teil einer nicht-dominanten und/oder marginalisierten gesellschaftlichen Gruppe sind und deshalb Diskriminierungserfahrungen machen. Wie kann man diesen Emotional Tax messen?
Es gibt einen Titel einer Studie, die lautet: „Wer nicht gezählt wird, zählt nicht.“ So ist das auch mit dem Begriff, der im deutschsprachigen Raum kaum Übersetzungen findet oder gebraucht wird. Und das ist das Problem. Alles, was nicht sichtbar ist, oder mit einer gewissen Vehemenz vorangetrieben wird, ist nicht existent bzw. wird bagatellisiert. Sobald Emotionalität ins Spiel kommt, sprechen viele Unternehmen die Wirtschaftlichkeit ab. Es ist kein Geheimnis und allseits bekannt, dass das Wellbeing am Arbeitsplatz eines der wichtigsten Schlüssel ist, wenn es darum geht, das Unternehmen zukunftssicher zu führen. Wellbeing umfasst viele Faktoren, die alle eng mit Gesundheit zusammenhängen.
Wie kann und sollte ergo ein Unternehmen aufgestellt sein, dass die Krankheitsstände, Anfragen beim Betriebsrat sowie Fluktuation reduziert und gleichzeitig marginalisierte Personen nicht daran hindert, sich zu entfalten? In dem Mitarbeitende regelmäßig befragt werden, ihre Meinung erst genommen und bei bspw. langen krankheitsbedingten Ausfallzeiten konkretere Nachfragen gestellt werden. Die Messung an sich ist aber schwierig und nur über diese beiden Indikatoren in gewisser Weise nachweisbar. Viel wichtiger ist es, dass Unternehmen und Gesellschaft so aufgestellt sind, dass eine Arbeitskultur aufgebaut wird, die nach Diversity, Inclusion and Equality das Belonging anstrebt, also das Gefühl, sich zugehörig zu fühlen. Eine ganzheitlich ausgerichtete Strategie, die intersektionale Verkettungen mitdenkt und Dominanzsysteme außer Kraft lässt. In der operativen Umsetzung erweisen sich verpflichtende und regelmäßige Anti-Bias-Trainings als sinnvoll. In den Berichten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes lassen sich anhand der dort eingegangenen Anfragen deutlich die Überproportionalität in den Merkmalen Geschlecht, ethnische Herkunft und Behinderung abbilden.
Was ist der Nutzen für Unternehmen, sich mehr um inklusive Intersektionalität zu bemühen?
Es ist ein Ansatz, um als Unternehmen nicht nur erfolgreich zu sein, sondern vor allem allen Mitarbeitenden den Raum zu geben, Talente, Kompetenzen unabhängig von Zuschreibungen, strukturellen Barrieren und persönlichen Einstellungen zu entfalten und ihre Kraft und Energie ins Wesentliche, nämlich die Arbeit, zu bündeln. Stattdessen sind Menschen damit beschäftigt, sich gegen diskriminierende, rassistische Ausschlüsse zu wehren. Inklusive Intersektionalität eliminiert alle sozialen und gesellschaftlich wirksamen Kategorien, die zwischen (De-)Privilegierung unterscheiden würden und zeichnet ein Idealbild.
Wie gelingt intersektionales Diversity Management?
Zunächst ist eines klar zu proklamieren: Diversity Management wird an der Führungsebene entschieden und nur dann auch authentisch getragen. Mit allen Unwägbarkeiten und Unbequemlichkeiten, die in diesem Prozess entstehen. Das sollte zu Beginn einer prozessualen Begleitung sehr eindrücklich und ehrlich formuliert werden. Nach den für Beratungsverläufe üblichen Schritte sollte gemeinsam herausgearbeitet werden, anhand welchen Diversitätsverständnisses sich strategisch ausgerichtet und orientiert wird. Letztlich geht es bei Diversity Management um interessengeleitete Aushandlungsprozesse zwischen marginalisierten und dominanten Gruppen. Es scheint ganz einfach. Was ist aber, wenn ich sage, dass wir Menschen Mitglieder von beiden Gruppen sein können? Je nachdem in welchem Kontext wir uns bewegen. Die Wahrnehmungsebene ist in diesem Prozess von immenser Bedeutung. Daher ist Diversity Management agil und flexibel zu betrachten und gestalten. Für Unternehmen steht immer auch der Business Case im Vordergrund, was bedeutet, dass die Faktoren Nutzen, Kosten, Risiken und Zeit mit aufgeführt werden sollten. Der größte Erfolgsfaktor ist aber das Mindset des Managements, welches sich zuvorderst mit der eigenen Haltung und Status auseinandersetzen sollte. Sich hinterfragen und auch Machtverhältnisse hinterfragen lassen, Führungsmodelle neu denken und formieren. Dominanzstrukturen umfassen eben mehr als gruppenbezogene Merkmale, sondern beinhalten neben „diversity of optics“ auch ein „diversity of minds“. Wenn Diversity Management die Änderung von Strukturen, Machtverhältnissen und Arbeits-Organisationskulturen anstrebt, strebt intersektionales Diversity Management einen potenzierten Mindshift an.
Türkân Deniz-Roggenbuck bietet als Inhaberin von „Kulturton“-Agentur für Diversität und Transkulturalität“ Seminare, Workshops, Prozessbegleitungen, Moderationen im Querschnittspektrum Diversity und Transkulturalität an. Neben dieser Tätigkeit ist sie als Keynote-Speakerin sowie Dozentin an unterschiedlichen Hochschulen tätig.
Mit ihren Eigenformaten wie „Diversity Salon“, „LiteraturBAR“ und „Brown-Bag-Lunch“, „Salon der Vulven“ bietet sie eine Plattform für unterschiedlich interessierte Menschen an. Ihr Agenturclaim „Raum für Vielfalt“ zeigt sich in ihrem gesamten Wirken, den Projektkonzeptionen- und Formatentwicklungen auch für externe Auftraggebende. In ihren dialogisch- sinnhaften Umsetzungen greift sie auf ihre diverse Berufsbiografie als Journalistin, Werbetexterin, Sozialmanagerin, Trainerin für interkulturelle Kompetenz und Diversity sowie ihre divers-kulturelle Familiengeschichte und Lebensentwurf zurück.
Aktuell befindet sie sich in der Ausbildung zum Coach für Relationales Management bei Dr. Radatz/Wien und ist international tätig.