Gründer, Podcaster und Autor Raúl Krauthausen bleibt laut bei sozialen Themen. In seinem neuen Buch prangert er die fehlende Bereitschaft zu mehr Inklusion an. Im Interview erzählt uns der Bundesverdienstkreuz-Träger von den Herausforderungen, denen Menschen mit Behinderung im Arbeitsmarkt gegenüberstehen, und wie Unternehmen Inklusion fördern können.
In seinem neuen Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“ zeigt Raúl Krauthausen der Gesellschaft einmal mehr den ungeschminkten Alltag von Menschen mit Behinderung auf und regt zu Sensibilisierung und Teilhabe an.
Als Inklusionsaktivist und Gründer der SOZIALHELD*INNEN setzt sich der Berliner dabei für mehr Barrierefreiheit ein und bietet Lösungsansätze für ein inklusives Miteinander. Im Interview gibt er uns Einblicke in seine Visionen und Ziele.
Dein kürzlich erschienenes Buch trägt den Titel „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“ Welche Ausreden hörst du am häufigsten?
Dein kürzlich erschienenes Buch trägt den Titel „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“ Welche Ausreden hörst du am häufigsten?
Wenn es heißt, „wir würden dich einstellen“, dann bedeutet das so viel wie …
„Du bist ja gar nicht behindert.“
Du bist ja gar nicht behindert, weil du in der Öffentlichkeit stehst?
Ja, und du sitzt ja nur im Rollstuhl! Ähnlich verhält es sich auch bei Menschen mit anderen Vielfaltsmerkmalen. Bei Personen mit Migrationshintergrund, die einfach fließendes Deutsch sprechen, heißt es dann auch: „Du bist ja nicht einer von denen, für mich bist du Deutscher.“
Die fehlende Differenzierung beginnt bereits bei der Bezeichnung Diversity, Equity & Inclusion [DE&I], mit der sich Unternehmen gerne schmücken.
Ja, das ist halt Window Dressing. So wie beim Klimaschutz plötzlich alle Unternehmen behaupten, dass sie umweltfreundlich agieren würden, aber in Wirklichkeit sind die Probleme tiefergehender. Die großen Modehäuser können gar nicht nachhaltig produzieren. Die haben halt eine Conscious Line, aber das reicht bei Weitem nicht.
Bei DE&I nervt es mich sehr, dass es immer weiße, nicht betroffene, gut aussehende Menschen sind, die in Unternehmen diese Themen repräsentieren. Egal, welcher Konzern DE&I verwaltet, verantwortet oder managt: Es sind immer Weiße, ganz oft Frauen ohne Behinderung. Wenn sie das Thema vertreten, dann reden sie immer über Gender. Klar, das ist auch ein wichtiges Thema, dann wird vielleicht noch über queer gesprochen, vielleicht noch über Migration, aber kaum über Behinderung. Behinderung ist die Dimension, die als letztes genannt und als erstes vergessen wird. Das liegt daran, dass Personen, die diese Positionen verantworten, kaum Berührungspunkte mit betroffenen Menschen haben und dann heißt es oft: „Wir haben uns ja auf den Weg gemacht und wir fangen ja gerade erst an.“ Aber eigentlich wollen sie diese Kritik nicht hören, denn sie sind ja die Guten.
Und auf dem Weg machen heißt in der Regel, den Gender-Pay-Gap zu schließen oder mehr Frauen in Vorständen zu haben …
Das glauben zumindest die meisten Unternehmen. Für mich ist Gleichstellung der Geschlechter allerdings kein DE&I-Thema, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wenn 50 Prozent der Gesellschaft Frauen sind, dann ist das kein Diversity-Thema, sondern Mainstream. Einen Migrationshintergrund zu habe, das ist ein Minderheitenthema. Wenn man schwarz oder queer ist oder eine Behinderung hat, das sind Themen, die Minderheiten betreffen. Wenn Unternehmen sich weigern, 50 Prozent ihrer Belegschaft mit Frauen zu besetzen, dann sind es einfach schlechte Unternehmen. Aber wir dürfen das nicht mit Diversity weichspülen.
Dabei impliziert die Bezeichnung DE&I eben mehr als Diversity.
Es ändert leider nichts, wenn wir neue Bezeichnungen dafür finden. Früher war es der Gleichstellungsbeauftragte, dann hieß es Diversity, jetzt DE&I und das „I“ steht für „Inclusion“. Man braucht aber nur mal „Inclusion“ in Google einzugeben, um anhand der Suchergebnisse zu sehen, wie dieses Wort inzwischen immer weiter gedehnt wird. Jetzt reden wir plötzlich von „Financial Inclusion“, aber nicht mehr über Behinderung. Natürlich meint Inclusion nicht nur behinderte Menschen, aber es war sehr lange das Wort der Community der Menschen mit Behinderung und selbst das wird ihnen wieder weggenommen. Das heißt, wir reden jetzt beim Thema Migration ungern über Araber, aber unglaublich gern über die Franzosen. Das stört mich wahnsinnig, dass diese Begriffe immer wieder vereinnahmt werden von Nichtbetroffenen, die selbst keine Lust haben, die Komfortzone zu verlassen.
Im Kern von DE&I geht es ja auch um die Sichtbarmachung von marginalisierten Gruppen. Gegenteiliges wird also bewirkt?
Genau, die machen sie ja gar nicht sichtbar, sondern sie stellen sich dann vor sie und reden über sie.
Arbeitgeber:innen, die über jahresdurchschnittlich monatlich mindestens 20 Arbeitsplätze verfügen, müssen gemäß Sozialgesetzbuch Neuntes Buch mindestens fünf Prozent (Pflichtquote) schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Reicht dieser rechtliche Rahmen auf dem Arbeitsmarkt aus, um Inklusion zu fördern?
Wenn Unternehmen die Quote nicht erfüllen, dann müssen sie zwar eine Ausgleichsabgabe entrichten, aber es gibt einfach einen Großteil der Unternehmen, gerade im KMU-Sektor [Kleinstunternehmen, kleine Unternehmen und mittlere Unternehmen], die Menschen mit Behinderung gar keine behinderungsgerechte Beschäftigung anbieten oder anbieten wollen. Die sind das Problem. Es ist nicht das Problem, ob du einen Prozentpunkt darüber oder darunter liegst, sondern das größte Problem sind die Unternehmen, die keine einzige Person mit Behinderungsmerkmal haben. Weil es ihnen egal ist, weil sie es nicht einsehen und lieber die Ausgleichsabgabe zahlen.
Werden diese Ausgleichsabgaben nicht vielmehr von großen Unternehmen billigend in Kauf genommen, weil sie es sich einfach leisten können?
Große Unternehmen erfüllen die Quoten in der Regel ganz gut, weil sie geschulte Personalabteilungen haben. Ein Tischler-Betrieb mit 20 Mitarbeiter:innen kann sich hingegen vielleicht einfach nicht vorstellen, einen gehörlosen Tischler einzustellen. Bei der Telekom wäre ein gehörloser Techniker hingegen nichts Ungewöhnliches.
Kleine Unternehmen haben hinsichtlich Barrierefreiheit auch andere finanzielle Mittel als große Konzerne.
Das sind Ausreden.
Warum?
Es braucht nicht jeder Mensch eine barrierefreie Maßnahme. Wenn du blind bist, brauchst du keine rollstuhlgerechte Toilette. Du brauchst entweder andere Software oder beispielsweise einen anderen Computer. All das ist erheblich günstiger als ein Aufzug oder ein Umbau der Toilette. Das meiste wird vom Amt bezahlt, beispielsweise vom Integrationsamt oder der Rentenversicherung. Das ist natürlich viel Bürokratie und das kann man auch durchaus kritisieren. Das Kostenargument ist aber auch supergefährlich, weil behinderte Menschen beim Thema Diversity die einzige Gruppe sind, die mit Kostenargumenten mundtot gemacht werden. Kein Unternehmen sagt, dass ihnen queere Menschen zu teuer sind, oder Frauen oder Schwarze. Die sagen dann andere Sachen, z. B. „Die machen Probleme.“ Aber nicht: „Die sind teuer.“ Behinderte machen Probleme und sind teuer. Das muss man kritisieren und hinterfragen.
Müssen Unternehmen hinsichtlich eines barrierefreien Arbeitsumfelds vom Gesetzgeber also stärker in die Pflicht genommen werden?
Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass Unternehmen nicht in der Verantwortung sein sollten, die Kosten für die Installation eines Aufzugs zu tragen. Das ist dann vielleicht die Aufgabe des Hausbesitzers. Wieso kam der eigentlich damit durch, ein Haus ohne Aufzug zu bauen? Man kommt ja auch nicht damit durch, ein Haus ohne Brandschutz zu bauen. Warum ist der Gesetzgeber da so nachlässig, das zu verpflichten und zu kontrollieren? Auch Altbauten müssen Brandschutzauflagen erfüllen und wenn sie nicht erfüllt werden, dann dürfen sie die Gebäude nicht betreiben und genauso müsste man das mit dem Thema Barrierefreiheit auch denken.
Was können Unternehmen hinsichtlich Inklusion besser machen?
Unternehmen müssen ihre eigenen Vorurteile hinterfragen. Dabei sollten sie Anti-Bias-Maßnahmen durchführen, die sich nicht nur auf Geschlecht und Migration, sondern auch auf die Dimension „Behinderung“ beziehen. Da gibt es zahlreiche Workshops und Firmen, die das auch anbieten, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Inklusion beginnt bei Jobbeschreibungen, die in der Regel nicht mehr zeitgemäß sind. Bei einer Informatikkauffrau liest man häufig die Beschreibung, dass man körperlich fit sein muss, weil man Computer von A nach B tragen muss. Aber Computer sind ja keine Computer mehr mit riesigen Monitoren, sondern Laptops oder Tablets. Das heißt, diese Jobbeschreibungen sind oft schon ausschließend, wenn es um körperliche Fähigkeiten geht.Grundsätzlich gilt das Zwei-Sinne-Prinzip. Das heißt, wenn gesagt wird: „Ja, Sie können sich online bewerben, laden Sie hier mal Ihr PDF hoch.“ Dann würde ich empfehlen, immer eine Alternative anzubieten für jemanden, der vielleicht nicht PDFs hochladen kann, weil er oder sie beispielsweise blind ist.
Hier kann man viel von großen IT-Unternehmen aus den USA lernen, die Jobs auf die Bewerber:innen anpassen und nicht umgekehrt. Das nennt sich „Job Carving“. Wenn ich als rollstuhlfahrender Mensch nicht in der Lage bin, Ordner aus dem vierten Regalfach runterzuholen, dann sollte das kein Grund sein, mich nicht einzustellen, sondern dann macht eben jemand anderes diese Aufgabe und ich mache dafür Tätigkeiten, die er sonst machen würde.
Das bedeutet, dass Unternehmen qualifizierte Fachkräfte verpassen, weil sie keine einfachen Tätigkeiten erledigen können, die noch nicht mal zur Kernaufgabe der Position gehören?
Da gibt es oft auch ein Übersetzungsproblem. Häufig weiß die Personalabteilung gar nicht, um was es sich für Jobs handelt, die da ausgeschrieben sind. Daher sollten die Jobbeschreibungen vom Vorgesetzten, vom Team-Lead oder der Projektleitung formuliert werden. Sie sind es, die einschätzen können, wie wichtig diese oder jene Tätigkeit ist. Personaler:innen wissen oft nicht, wie wichtig jetzt das Tragen des Aktenordners ist im Vergleich zu „muss programmieren können“.
Wie erreicht man beim Recruiting den Menschen mit Behinderung am besten?
Wenn man wirklich behinderte Kolleg:innen sucht, dann sollte dies auch ins Headhunting integriert werden. Es gibt für behinderte Menschen sogar extra Jobportale dafür. Und wenn man es wirklich ernst meint, dann würde man auch dort inserieren und nicht nach Schema F das Gleiche machen und sich dann wundern, dass sich keiner bewirbt. Es ist schon absurd, dass Unternehmen sagen: „Wir würden ja, aber es bewirbt sich keiner.“ Und gleichzeitig sagen Menschen mit Behinderung: „Ich schicke 100 Bewerbungen, aber niemand lädt mich ein.“