Interviews

DiverCity: Mindestlohn in Behindertwerkstatt

Inklusion ist mehr als Teilhabe

In unserer Reihe „DiverCity“ beleuchten wir die unterschiedlichen Facetten von Diversität und Inklusion in der Arbeitswelt. Vor welchen Herausforderungen Menschen mit Behinderung im Arbeitsmarkt stehen und wie Arbeitgeber für mehr Barrierefreiheit sorgen können und warum der Mindestlohn in der Behindertenwerkstatt überfällig ist, hat uns Inklusionsaktivist Lukas Krämer im Interview verraten.

Seit 2015 gilt in Deutschland der allgemein gesetzliche Mindestlohn, der aktuell 10,45 Euro brutto pro Stunde beträgt und ab dem 1. Oktober auf zwölf Euro ansteigen soll. Ausgenommen vom Mindestlohngesetz sind Personengruppen wie Auszubildende oder Langzeitarbeitslose. Aber auch für Menschen mit Behinderung, die im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigt sind, gilt das Mindestlohngesetz nicht.

Ein reformbedürftiger Zustand, sagt Lukas Krämer. Der erfolgreiche YouTuber erkrankte mit fünf Jahren an einer Hirnhautentzündung (Meningitis) und arbeitete nach der Schulausbildung für einen Stundenlohn von 1,35 Euro selbst in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Heute ist Krämer als Social-Media-Experte bei der Bundestagsabgeordneten Corinna Rüffer angestellt und übt scharfe Kritik an der geringen Bezahlung Werkstatt-Beschäftigen.

Seine Petition #StelltUnsEin, in der der Aktivist einen Mindestlohn für Menschen mit Behinderung fordert, haben inzwischen 178.000 Personen unterzeichnet (Stand: 12. Juli). Zustimmung, die Krämer seitens Wirtschaft und Politik vermisst. Wir haben mit dem 28-Jährigen über Karrieremöglichkeiten von Betroffenen, den Mindestlohn in der Behindertenwerkstatt sowie über den Beitrag gesprochen, den Arbeitgeber für mehr Inklusion und Chancengleichheit auf den Arbeitsmarkt leisten können.

Wie bewerten Sie die Beschäftigungssituation für Menschen mit Behinderung in Deutschland derzeit?

Es ist extrem schwer, in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu kommen. Die Ursachen hierfür beginnen schon in der Ausbildung. Unter anderem werden Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung für die Förderschule aussortiert. Auf meiner Schule, das war eine Förderschule für geistige Entwicklung, konnte man zum Beispiel keinen Abschluss erwerben. Und ohne Abschluss sind die Chancen auf einen Job natürlich sehr gering. Die meisten Arbeitgeber schließen Bewerbungen bereits aus, wenn kein Schulzeugnis mit gesendet wird. Dann landet das Anschreiben eben direkt im Papierkorb.

Wohin führt dann der Weg?

In eine Behindertenwerkstatt, und das ist häufig auch gleichzeitig die Endstation. Es gibt keine Strukturen, um behinderte Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Die Vermittlungs-Quote liegt bundesweit bei knapp einem Prozent. Die Werkstätten sind mit dem Inklusionsgedanken derzeit nicht vereinbar.

Das betrifft auch die Bezahlung der Mitarbeitenden.

Personen, die in Vollzeit in einer Werkstatt arbeiten, verdienen rund 220 Euro im Monat. Die Werkstätten sind zwar verpflichtet, 70 Prozent vom Arbeitsergebnis an die Mitarbeitenden auszuschütten, sie müssen die Löhne aber auch selbst erwirtschaften. Heißt: Wenn es keine Aufträge gibt, können Gehälter sogar gekürzt werden. Auch deswegen ist ein Großteil der Beschäftigten auf Grundsicherungsleistungen angewiesen, um den Lebensunterhalt sichern zu können. Daher mache ich mich für einen Mindestlohn in Behindertenwerkstätten stark.

Viele Werkstatt-Betreiber:innen sagen, dass der Durchschnitt der Beschäftigten nicht in der Lage ist, so viel zu erwirtschaften, dass man daraus einen Mindestlohn bezahlen kann. Gleichzeitig liegt der bundesweite Jahresumsatz aller Behindertenwerkstätten bei rund acht Milliarden Euro. Wie passt das zusammen?

Gar nicht. Zwar entfallen vom reinen Umsatz rund fünf Milliarden auf Personal- und Sachkosten in den Werkstätten, jedoch muss es hier zu einer gerechteren Umverteilung kommen. Mein Lehrer hat früher in der Schule immer daran gezweifelt, dass ich Japanisch oder Englisch lernen werde, weil ich nicht lesen kann. In der deutschen Sprache kann ich das noch immer nicht, Japanisch habe ich mir aber selbst beigebracht und kann auf der Sprache lesen und schreiben. Wenn man Menschen mit Behinderung nicht zutraut, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, dann werden diese Menschen sich auch niemals beweisen können. Gegen diese Vorbehalte können wir nur angehen, wenn wir mit einem inklusiven Bildungsweg beginnen, der zu einem inklusiven Arbeitsmarkt führt samt Mindestlohn in den Werkstätten, um den Betrieben zu zeigen: „Ihr könnt hier jetzt nicht mehr billig herstellen und dadurch Gewinn machen.“ Wenn die Betriebe nicht mit der Arbeit zufrieden wären, würden sie da ja auch nicht produzieren.

Muss das Beschäftigungsverhältnis staatlich besser reguliert sein?

Die Antwort lautet ganz klar: Ja. Dass Menschen mit Behinderung mit 1,50 Euro die Stunde sehr weit von einem Mindestlohn entfernt sind, hat damit zu tun, dass das Sozialgesetzbuch die Rechtsstellung der behinderten Menschen im Arbeitsbereich der Werkstätten als arbeitnehmerähnlich definiert. Dabei ist das Arbeitsvolumen in Werkstätten vergleichbar mit dem in klassischen Beschäftigungsverhältnissen. Denn in der Regel gibt es auch in Werkstätten eine Fünf-Tage-Woche mit bis zu 40 Stunden. Hinsichtlich der Entlohnung sind Menschen mit Behinderung trotzdem nicht gleichgestellt.

Ein Argument, das für das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis angeführt wird, ist der besondere Schutzraum in Werkstätten.

Betroffene Menschen erhalten zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts Leistungen der Grundsicherung oder eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Zudem erhalten sie rehabilitative Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und haben bei einer Behinderung von mindestens 50 Grad einen besonderen Kündigungsschutz. Doch was bringen einem die Teilhabe oder der besondere Kündigungsschutz, wenn man am Ende des Monats nur so wenig hat, um überleben zu können.

Kommt ihre Botschaft denn auch bei Unternehmen an?

Ich habe von einer Firma erfahren, die aufgrund meiner Petition ihre Produktion in einer Behindertenwerkstatt eingestellt hat, weil dort nur 1,35 Euro pro Stunde gezahlt wurde. Wenn öffentlich gemacht wird, dass in Produktionsstätten nicht der Mindestlohn gezahlt wird, kann das für das Unternehmen natürlich auch einen Imageschaden nach sich ziehen.

Bedingung für Inklusion ist auch die Zugänglichkeit am Arbeitsplatz für Menschen mit Behinderung. Rund 68 Prozent der Arbeitgeber-Profile auf kununu führen die Barrierefreiheit nicht an. Wie können sich Arbeitgeber hier besser aufstellen?

Barrierefreiheit beginnt bei der Zugänglichkeit. Biete ich Pkw-Stellplätze in der Nähe des Gebäudeeingangs für das Ein- und Ausladen von Rollstühlen an? Gibt es genügend Rampen und Fahrstühle für Menschen mit Gehbeeinträchtigung? Sind Bodenbeläge rutschfest, die Flure breit genug und stelle ich als Arbeitgeber spezielle Eingabegeräte und Software zur Verfügung, die beispielsweise die Spracheingabe oder Bildschirmvergrößerung ermöglicht? Es gibt hier also eine ganze Reihe an Gestaltungsmöglichkeiten, um Arbeitsplätze barrierefreier zu gestalten.

Anschaffungen, die viel Geld kosten. Ist Barrierefreiheit in finanziell schwächer aufgestellten Unternehmen überhaupt möglich?

Unabhängig von Umsatz und Unternehmensgröße erhalten Arbeitgeber finanzielle Förderung, um Barrieren dauerhaft zu beseitigen und die betriebliche Integration von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Für behindertengerechte Aus- und Weiterbildung von behinderten und schwerbehinderten Menschen werden zudem Zuschüsse gewährt. Die entsprechenden Anträge können bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt werden. Der Bund unterstützt Arbeitgeber also finanziell, so regelt es das Bundesteilhabegesetz. Arbeitgeber müssen das Angebot aber auch wahrnehmen.